Nun aber machen wir erstmal eine Themapause - wir setzen hier den Auszug des unten besprochenen Romans fort - und blicken uns etwas in den Trümmern der jüngsten Weltgeschichte um. Denn die gesellschaftliche Praxis wirkt auch auf das Denken und Handeln von Menschen wie Nastassja und Bartolomé ein; wobei die Veränderungen, welche die beiden durchaus auch bewirken oder besser hervorrufen können, laufen meist hinter ihrem Rücken ab, ausserhalb ihres Wissens und Wollens; vielleicht müssten unsere zwei Protagonisten also gar nicht Thema dieses Romans sein, der von ihnen handelt?
Nastassja und Bartolomé leben in Westeuropa, erstere allerdings in der Grossstadt B., letzerer im schönen Z., und so wird ein spannender Aspekt unseres Romans sein, unter welchen Umständen sie überhaupt zusammenfinden, es kommt nämlich hinzu, dass sie auch einige Jahrhunderte voneinander entfernt leben dass sie verschiedene Bücher lesen dass sie... nun, wir werden ja sehen, welche Gemeinheit ich mir ausdenken werde, die sie auseinander halten soll.
Die sozialen Praktiken Westeuropas sollen also hier primäres Thema sein hier. Wobei ich allerdings nicht vorhabe, Sie durch seitenweise Forschungsliteratur durchzujagen. Diese Arbeit habe ich Ihnen abgenommen. Was sie zu Gesicht bekommen auf den folgenden sagen wir Mal grob geschätzt zweihundert Seiten sind einige exemplarische Leben. Dass es bisweilen etwas klischiert wirken mag, liegt in der Natur der Sache. Diese Skizze wird Grundlage sein, auf welche die Erzählung von der schönen Nastassja, von der Sie alle schon begierig sind zu hören, und dem gut- und treuherzigen, jedoch von ihm unbewussten Begierden und Zwängen angetriebenen Bartolomé aufbauen wird.
Die
Sexheldin des neuen Romans von Justus Wönzel-von Ützel, hat letzthin einer gesagt, sei eine junge, hübsche und sehr gut aussehende, zudem auch äusserst kluge und zu ihrem guten Glück auch reiche Russin mit dem wunderbaren Namen Nastassja. Ich muss es so nennen, fuhr er angesichts des Stirnrunzelns eines anderen fort, geht es doch in jenem neuen Roman des sehr gebildeten Autors Wönzel-von Ützel fast ausschliesslich um Sex, zudem allerdings auch, ergänzte er nachdenklich, um Essen und Trinken; kurzum, schloss er, es geht um Körperöffnungen und ihrem so mannigfaltig wie mannigfachen Gebrauch.
Der Roman, der 2006 beim
Ephemer Verlag erschienen ist, beginnt mit einer seitenlangen Aneinanderreihung von Zitaten aus Wohlfühl-, Wohnrevue-, Wir-Eltern-, Partnerschafts-, Freundschafts-, Frauen-, Mode-, Männer- und Lifestyle-Magazinen - um uns, wie der Autor in einem Interview sagte, "einzustimmen auf den Diskurs unserer traurigen geistlosen Zeit, welcher bis zum Exzess reproduziert wird in den so so mannigfaltig wie mannigfachen Magazinen, welche wir lesen, wenn wir im Wartezimmer unserer Ärzte sitzen und die Worte zusammenzuklauben versuchen, mit welchem wir der Ärztin oder dem Arzt von unseren Erektionsstörungen, Verdauungsproblemen und Soziophobien berichten werden" (Constraint-Magazin, November 2006) - und hebt dann an mit dem tiefsinnigen Absatz, an dem sich Heerscharen die Zähne ausbeissen und die Köpfe wunddenken werden, sofern der Roman, was man ihm doch sehr wünschen würde, überhaupt zur Kenntnis genommen wird, was leider nicht selbstverständlich ist - es kann sein, dass er von der
Aufmerksamkeitsmaschinerie nicht erfasst wird; hier nun also der Absatz:
Das Paar. Wenn beider Teile Lippenschleimhäute einander berühren, so ist das ihr höchstes Glück. Nastassja, eine junge, hübsche und sehr gut aussehende, zudem auch äusserst kluge und zu ihrem guten Glück auch reiche Russin und Bartolomé Las Casas, einen kahlköpfigen Intellektuellen, sind die Sexhelden dieses Romans. Nun aber machen wir erstmal eine Themapause und blicken uns etwas in den Trümmern der jüngsten Weltgeschichte um...
Dies bloss ein kurzer Vorabbericht eines Buches, welches uns hier, wie wir vermuten, noch längere Zeit beschäftigen wird.
Sie ist 31 Jahre alt. Ist weiblich. Und Single. Schreiben, sagt sie, fiel ihr immer schon leichter als Reden. Was lag also näher, führt sie aus, und sie redet nicht schlecht dafür, dass es ihr nicht leicht fällt, es lag also, so sagt sie, es lag nahe, einen Blog zu führen. Sie will, sagt sie mir, wobei sie auf die Theke schaut und nicht oder nur ganz selten, nur kurz und ganz flüchtig zu mir hin schaut, sie will mitteilen, aber es gehe einfach nicht, normalerweise, es komme nicht aus ihrem Mund, in solchen Situationen, über die Tasten hingegen würden ihre Finger nur so fliegen. 31 Jahre, sagt sie, weiblich, wie du ja siehst. Durchaus, sage ich. Weiblich also, und Single, d.h. ohne Mann, zwar nicht ständig darauf hinaus, jedoch ebensowenig gänzlich abgeneigt, wenn es denn einer sei, der gefalle, nicht so einen Typ und auch keinen solchen.
Sie küsste ihn flüchtig auf den Hals. Er sass vornübergebeugt über Bücher und Papiere. Es war schon 3 Uhr nachts. Er dachte vergeblich nach. Er starrte auf Buchstaben als ob sie Bilder wären.
Er würde das Haus nicht mehr verlassen, würde in seinem Zimmer sitzen, würde das Unglück beweisen, die Niederträchtigkeit, die Gemeinheit des Menschenwesens. Es war zwei Uhr Morgens, er schlug Wönzel-von Ützels Die Vernunft ist die Beste wieder auf und lass bis zur Erschöpfung um fünf Uhr früh. Immer noch an seinem Schreibtisch sitzend wachte er auf, um neun Uhr Morgens, geweckt von den Sonnenstrahlen auf seinem unrasierten Gesicht.
Sie küsste ihn flüchtig auf den Hals, sie roch nach Frau und auch nach Rauch und nach Bar und sie sagte, dass sie schlafen ginge. Er sagte dass er auch komme, dass er müde sei, ungeheuer müde, seit Tagen und Wochen schon, und dass es schön sei sehr schön sei, sie zu sehen.
Nicht nötig, sagt sie, ich geh erst mal duschen, und er wusste nicht genau, was nicht nötig sei. Still und kurz machte er dann Liebe mit ihr. Sie genoss die warme Vertrautheit, und er ihren Geruch, die Wärme ihres Körpers, der unter ihm lebendig war, der sich an ihn schmiegte nachher, ihre Schamhaare, die weich und ihn ganz leicht kratzend auf seinem Bein lagen. Er wusste nicht, wo sie eben gewesen war. Sie hatte aber das Gewissen darüber nicht mehr. Es war schon lange so. Man vergisst.
Die feingewebliche Untersuchung seines Hirngewebe zeigt einen Mangel an Nervenfasern und Nervenverbindungen im Bereich der Amygdala, des Hippocampus und anderen limbischen Strukturen, des Temporallappens und der frontalen Hirnregionen, weiter auch andere Auffälligkeiten der Mikrostruktur.
Er geht durchs Gebirg. Er wühlte in ihrem vom Duschen feuchten Haar. Es roch noch immer nach Rauch.
Er wusste ihre Erschöpfung bloss falsch zu deuten.
Er schlief ein. Er wachte auf. Er stand auf, wusch sich, bereitete das Frühstück vor und wartete lange, bis er sie dann zu wecken versuchte, wieder und wieder, und sie sich umdrehte und ja sagte, ja gleich, ich komme gleich, und auf der anderen Seite wieder einschlief. Aber man muss ja auch vögeln, nicht? Sexparties. Das ist wichtig.
Der Toaster spuckte Brotscheiben aus. Der Kaffee dampfte. Sie drehte sich auf dem Absatz um. Er dachte nichts, schon seit Tagen nichts, schon lange nichts.
Die Positronen-Emissionstomografie zeigt eine verminderte Aktivität seines Frontalhirns.
Bislang wurde jedoch nicht geklärt, ob es sich bei der beschriebenen Veränderung um eine verminderte Aktivität des frontalen Cortex handelt oder nur um seine verminderte Aktivierbarkeit aufgrund einer krankheitsbedingten erhöhten Basisaktivität.
Er wühlte in ihrem vom Duschen feuchten Haar. Sie roch noch immer nach Rauch, und immer mehr nach Frau. Er atmete ein.
Er wachte auf und erhob sich vom Schreibtisch, die Papiere unordentlich darüber verteilt, kein System mehr, schon lange nicht. Die Nacht dauert an, er ans Fenster, er in der Küche: trinkt und trinkt noch ein Glas. Wieso nicht noch ein Glas. Ihr Körper, der unter ihm lebendig war. Nicht nötig, hatte sie gesagt, ich geh erst mal duschen. Still und kurz hat er dann Liebe mit ihr gemacht.
4 Leute. Sie reden nicht miteinander, sondern nur in ihr Mobiltelefon. Die Reden spinnen sich allerdings ineinander und bilden Diskurse. Man kommt aber nur schrittweise voran; die Protagonisten beteuern - wie man das ja so macht - immer und immer das gleich. Ich... Klar ist doch, dass... Wie Peter immer sagt... und ich stimme ihm da eigentlich durchaus bei, wenn nicht, was Astrid ja letzthin passierte, das Folgende eintritt... mir gab das, als Astrid mir es erzählte, nämlich schon zu denken. Klar ist doch, wenn man das betrachtet, dass was Peter sagt in Frage zu stellen ist, insbesondere wenn man die Hiobsbotschaften in den Zeitungen liest. Gegenwärtig, ich sage dir, ist das das Top-Thema. Rauf und runter diskutiert wirds, und die Astrid hätte da ein Wörtchen mitzureden, das muss auch Peter eingestehen, und tut er im Übrigen auch, sagte mir zumindest Rahel, die meint, sie hätte ihn letzthin auf dem Fest, du weisst schon, dem Fest, auf dem Fest hätte sie ihn darauf angesprochen und er hätte - stell dir vor - gesagt, dass er das, wenn auch schweren Herzens, eingestehen müsse. Eigene Erfahrung, ich sags ja immer, kostet nicht die Welt, wenn es auch in ihrem Fall nun am Schluss doch ziemlich teuer geworden ist, kostet also in der Regel nicht die Welt, ist durch nichts zu ersetzen und wenns draufankommt ist Gold wert. Sie zahlen auch was für Fotos heutzutage. Es muss nicht einmal immer eine Story sein. Fotos reichen.
Heute habe ich gedacht dass... Ich finde... Ich meine... Also wirklich, für mich sonnenklar ist, dass... Heute bin ich müde, darum sage ich nur... Dieses süsse Mädel, welches... Ich... und ich... und dann ich... darum ICH... ICH... ICH...
Ist der Blog der junge Bruder der privaten Homepage, welche es früher Mal einstmals vor Urzeiten einmal gab, vollgekleistert von Fotos und launigen Texten über und von: ich und mein Hund, ich und mein Schatz, ich und mein Haus, meine Hobbys, mein Auto, mein Fernseher. Ich. Hallo Welt. HALLO WELT! ? Nur kommt er noch intimer daher, noch banaler und versteckt hinter technischer Raffinesse eines Redaktionssystems, verkauft als moderner Lifestyle, als Pop, und ist dabei vielleicht bloss schäbiger Ersatz für öffentliche Relevanz und privates Leben.
Um es zu präzisieren: warum täglich irgendwelche hermetische Äusserungen online stellen; interessiert das jemand, interessiert es den Verfasser selbst? ist es nicht so, dass wenn man sich Zeit nehmen würde, um sich zu artikulieren, um das bloss angedachte und angeschriebe Thema oder Problem auszuformulieren, man viel zu kritisch werden würde, um es so mir nichts dir nichts zu verkünden (obwohl man das sonst auch immer tut in Gesprächen; vielleicht hat bloss die Schriftlichkeit ihren Sonderstatus verloren), man auf dem Stift rumzukauen beginnen würde bzw. in Gedanken versunken Asche auf die Tastatur streuen und sich die Finger an der heruntergebrannten Kippe verbrennen würde; der Latte kalt werden würde im schönen Berliner Lokal mit Zürcher Preisen, und auch der nette Flirt mit der Schönen gegenüber ausfallen würde, weil man zu versunken wäre. Statt dessen also flott getippt und klick - "veröffentlicht".
Dies ist keine Zitatensammlung, sondern ein Zusammenstellen von Material. Sex und Verzweiflung äussern sich beide in Mundverwendungen. Das ist zumindest schon hervorgegangen. Vielleicht muss man einander aufessen, um sich wirklich nahe zu kommen. Leider verschwindet man dann. Falsche Objektwahl.
Vielleicht lieber mal "Themapause", wie ich letzthin jemand hörte sagen; ein schönes Wort, wie ich fand. Themapause.
Der Denker am Schreibpult furcht vor Gedankenleistung die Stirn. Da setzt im Nebenzimmer einen von einem verstimmten Klavier begleiteten Chor dilettantisch zu einem Kirchenlied an. Der Denker blickt missmutig auf, zieht geräuschvoll die Nase hoch, kneift die Augen zusammen und zischt zwischen verschlossenen Zähnen hervor: "Diejenigen, welche zu häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, dass sie dem Publikum durch eine solche lärmende (eben dadurch gemeiniglich pharisäische) Andacht eine grosse Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mit zu singen oder ihre Gedankengeschäft niederzulegen nötigen." Da stürmt eine ausgemergelte Gestalt in den Raum und schreit den Denker, der darob gewaltig erschreckt, ins Gesicht: "Ist der Schauspieler erst einmal in Raserei geraten, so bedarf er unendlich mehr Tugend, um kein Verbrechen zu begehen, als der Mörder Mut nötig hat, um das seinige durchzuführen, und hier, in ihrer Willkür, zeigt sich die Wirkung eines Gefühls auf dem Theater als etwas unendlich viel Gültigeres als die eines verwirklichten Gefühls.”
(Kant: Kritik der Urteilskraft; Artaud: Das Theater und sein Double)
"Die Verwendung des Mundes als Sexualorgan gilt als Perversion, wenn die Lippen (Zunge) der einen Person mit den Genitalien der anderen in Berührung gebracht werden, nicht aber, wenn beider Teile Lippenschleimhäute einander berühren." (Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie)
Man kann zwischen zwei Gesellschaftsformen unterscheiden: "denjenigen, welche die Anthropophagie (Menschenfresserei) praktizieren, also in der Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, das einzige Mittel sieht, diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen; und derjenige, die - wie die unsrige - eine Haltung einnimmt, welche man als Anthropemie (von griech. emein, erbrechen) bezeichnen könnte. Angesichts ein und desselben Problems haben diese letzteren Gesellschaften die umgekehrte Lösung gewählt, nämlich jene gefährlichen Individuen aus dem sozialen Körper auszustossen und sie zeitweilig oder für immer in eigens für diesen Zweck bestimmten Einrichtungen zu isolieren und von der Berührung mit anderen Menschen auszuschliessen. Den meisten Gesellschaften, die wir primitiv nennen, würde diese Sitte tiefen Abscheu einflössen; sie würde uns in ihren Augen mit derselben Barbarei behaften, die wir ihnen aufgrund ihrer symmetrischen Sitten anzulasten versucht sind." (Lévi-Strauss: Traurige Tropen)
Der Zweifel am Sein der Dinge bringt zur Verzweiflung. "Auch die Tiere sind nicht von dieser Weisheit ausgeschlossen, sondern erweisen sich vielmehr, am tiefsten in sie eingeweiht zu sein; denn sie bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seienden stehen, sondern verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewissheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu und zehren sie auf." (Hegel: Phänomenologie des Geistes)