Derweil draussen Himmel und Hölle bewegt, die Welt auf den Kopf gedreht und tüchtig ausgeschüttelt und der Schmutz von Jahrtausenden ausgekehrt wurde, bekannte Klumpfuss ein, sei er drinnen gewesen und hätte gelesen.
Seine Kommilitonen sitzen unterdessen alle in diesem oder jenem Verwaltungsrat und schröpften Millionen. Die meisten verheirateten sich eben zum dritten Mal, haben aber schon die nächste Geliebte im Auge, mit der sie auf Geschäftskosten nach Amerika fliegen und sich in teuren Hotelzimmern vergnügen werden. So zumindest werde es von reaktionären Zeitschriften gerne und oft kolportiert.
Er aber habe letzthin einen getroffen, dem hätte es übel mitgespielt: er könne sich und seine fünfundzwanzig Kinder nur notdürftig über Wasser halten als Betreiber eines spirituellen Zentrums im Berner Oberland. Allein das Essen verschlinge Unsummen, wie man sich vorstellen könne; bei den unterdessen gestiegenen Preisen sowieso. Auch hätten die Katholiken wieder vermehrt Zulauf und New Age erscheine vorgestrig - man hätte aber eine global agierende Agentur engagiert, welche sich Konzepte ausdenken würde. Etwas müsse da schon zu machen sein. Aus mehr als Revivals bestehe das Neue und Neuste sowieso schon lange nicht mehr.
Dies sei aber sowieso alles schon eine Weile her. Wir
erinnern uns: Klumpfuss an einer vornehmen
Dinner Party, hier ein Ohr voll Gespräch, da ein Glas Weisswein, dort ein flüchtiger Blick in ein Dekolleté, und schon bald gänzlich im Banne eines charmanten Engländers namens Charles Dickens oder Darwin, der ihm eine vermeintliche
sine cura auf einer netten Insel im Mittelmeer andrehte. Das ganze war nicht ganz sauber, keine Frage. Aber er, Klumpfuss, war etwas leichtgläubig, schon immer gewesen und auch im Alter nicht klüger geworden, wie sich jüngst wieder prächtig gezeigt hätte.
Deshalb sässe Klumpfuss, so diktierte jener dem treuen Edgar in die Feder, nun bekanntlich auf einer trostlosen Insel fest, ohne Pass, Ruhm oder Ehre, daran täte es Not zu erinnern. Auch müsse man in Zukunft mehr darüber erzählen, einstweilen aber hätte man die eigene Existenz im Weltgeschehen gespiegelt darstellen wollen, wofür vor einigen Tagen die
ersten Skizzen angelegt worden seien. Dies müsse aber hier zur Erklärung nachgeschoben werden. Die erste Veröffentlichung in der hiesigen Lokalzeitung sei nämlich auf Unverständnis, Hass und Zorn gestossen und man habe sich gerade noch ins Haus des Gouverneurs retten können, wo immerhin gerade ein rauschendes Fest zu Ehren des Gouverneurs Tochter stattfand.
An einem windstillen Sonntagmorgen notierte Cartesius in sein privates Cahier, dass das einzig gewisse sei: dass er denke. Das war immerhin schon etwas. Darauf, war er überzeugt, liesse sich bauen. Er hob seinen Blick vom Heft und beobachtete sehnsüchtig die Nachbarstochter, die - wahrhaft biblisch und insofern könne sein Blick, das würde jeder bestätigen, als durchwegs sittlich gelten - Wasser vom Brunnen schöpfte. Marianne Fournier war zwanzig Jahre alt und zweifellos, so dachte der seiner selbst gewisse Cartesius, bildhübsch, aber er konnte sich weiss Gott keine Heirat leisten. Nun auf einmal übelgelaunt, nachdem der Tag doch so selbstsicher angefangen hatte, tunkte er den Gänsefederkiel ins Tintenfass und kratzte einige diesmal eher lustlose Zeilen hin.
Unterdessen bewegen wir uns einige Jahrhunderte vorwärts. Gehirnscan, schreiben die Zeitungen, sei vonnöten, um früh genug verbrecherische und sittenwidrige Individuen zu erkennen und in ihrem eigenen Interesse der Besserung zuzuführen. Insgeheim, so schreibt Karl Klumpfuss, denken auch die liberalsten unter uns, dass dies wohl nicht gänzlich verkehrt sei oder doch wenigstens zum grössten Glück der grössten Zahl führe; wenn auch sie natürlich dies öffentlich nicht verlauten würden, sondern gewaltig ihre Stimme dagegen erheben und Aufklärung, Anstand und Altphilologie herbeizitieren.
Schliesslich meldete sich auch der Pontifex zu Wort und verteidigt die Freiheit zum Bösen, denn auch seine Priester vergingen sich immer wieder Mal. Die Fleischlichkeit mache doch erst den Menschen aus. Aber Sorgen müsse man gleichwohl keine wälzen, denn die Hoffnung werde uns erlösen: in spe salvi, wie er bedeutungsschwer nachschob.
Derweil im gutpreussischen Königsberg wird erinnert, was von der "Anheischigmachung König Franz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften erzählt wird: was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will auch ich haben." Folglich: "Empirische Bestimmungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äusseren Gesetzgebung, aber eben so wenig zur innern; denn jeder legt sein Subjekt, ein anderer aber ein anderes Subjekt der Neigung zu Grunde, und in jedem Subjekt selbst ist bald die, bald eine andere im Vorzuge des Einflusses."
"Zum Beispiel steht da", sagt Karl Klumpfuss zum eifrig notierenden Edgar (wir erinnern uns des Hintergrundes, weswegen er hier nicht wiederholt werden muss), "ich müsse mal etwas schreiben, das beginnt mit der selbstgewissen Wendung: 'Es tut Not daran zu erinnern, dass ...'"
Edgar malte das in seiner aparten Handschrift gewissenhaft hin hatte und hielt sich bereit, den Fortgang dieses in Stein zu meisselnden Satzes festzuhalten. Klumpfuss aber schon längst abwesend. "Gewiss ist, wenn nichts anders gewiss ist", nahm Edgar einen
vergangen Faden wieder auf, in der Hoffnung, den schweigend sinnierenden Klumpfuss wieder zum Reden zu bringen, "dass ich alle meine Gedanken muss begleiten können, ansonsten nämlich, und dies sei doppelt unterstrichen, wären sie nicht
meine Gedanken, sondern von mir aus irgendwelche." Klumpfuss sah schweigend auf die Strasse den Passanten hinterher, oder vielleicht betrachtete er auch nur sich selbst im gegenüberliegenden Schaufenster. Es war ein klarer, wind- und wolkenloser Tag und schon seit dem Morgen lag bleierne Hitze über die kleine Insel, in der Klumpfuss und sein Privatsekretär nun schon seit drei Monaten festgehalten waren. Klumpfuss fluchte. Edgar hatte wieder einmal den ganzen Morgen beim Polizeipräfekten verbracht, und noch immer bekamen sie ihre Pässe nicht wieder, ohne die sie nicht ausreisen konnten. In der Ferne hörten sie das lange Tuten eines auslaufenden Schiffes.
Es tut Not daran zu erinnern, wie die beiden hierher kommen. Alles begann vor einigen Monaten, als Klumpfuss in eine Gesellschaft geladen war und ins Gespräch kam mit einem englischen Gentleman. Er sei im Handel tätig, hatte dieser gesagt, und Klumpfuss hatte verständnisvoll genickt und zwei drei angemessene Fragen gestellt. Der Baumwollepreis sei wieder, wie man lese, gestiegen, und mit dem Bau des Suez-Kanals würde sich, wie man höre, und man sei ja zufälligerweise in eigener Person letzthin in Ägypten gewesen und hätte selbst vom Fortschritt Augenschein nehmen können, der Bau also würde der Dynamik des Welthandels einen ganz neuen Drall geben. Klumpfuss also dieserart hin und her geredet und sich glänzend unterhalten, ab und an ein neues Glas vom Tablett des aparten Dienstmädchens mit den glänzenden Augen. Bald vergrösserte sich der Kreis der Hörer und es fielen Einwände von Männern, welche in der anderen Zeitung etwas ganz anders gelesen hatten oder aufgrund ihres aus langjährigen Beschäftigung geschöpften profunden Wissens zu bezweifeln wagten, bald verkleinerte sich der Kreis wieder - ja, ich nehme noch ein Glas - verkleinerte sich, wie gesagt, der Kreis wieder und ich und er standen bald wieder allein. Und just dann, als wir unter zwei Augen waren, bot er mir die Stellung an, die mich hierher geführt auf diese trostlose Insel, wo als erstes mir mein Pass weggenommen wurde und auf der ich seither festsitze ohne Aussicht, dass sich meine Lage bald ändern werde. Hochachtungsvoll, schrieb Klumpfuss schwungvoll unter das Schreiben, signierte es mit vollem Namen und Dienstnummer, faltete den Brief und zwängte es ärgerlich in ein Kuvert, welche er hernach Edgar reichte zum versiegeln.
Nr. 753
Ich kannte schon lange seinen Namen und war stets darauf bedacht, ihn mit diesem zu grüssen und trotz meiner Abneigung einige freundliche Worte hervorzukramen und ihm zum Tausch anzubieten.
Er jedoch fragte stets mit unendlich arrogantem Grossmut, wie doch schon wieder der meine sei.
Man kenne ja, fügte er mit einer wegwerfenden Handbewegung an, so viele Leute, dass man sich niemals alle merken könne. Es sei aber auch, er hätte da so eine Theorie, und mit Theorien kenne ich mich doch aus, nicht wahr, ich sei das doch, er hätte da also diese Theorie: es sei gar nicht nötig, wenn nur jeder jeweils wisse, wie er selbst heisse, so sei nämlich die notwendige Information immer vorhanden und könne gegebenenfalls an die nötige Stelle übergeben werden.
Nr. 527
Jemandem zurufen, der vorbeigeht. Er steuert auf einem zu und lächelt säuerlich. Man merkt, dass man besser den Mund gehalten hätte. Keine Lust, ausgerechnet
ihm zu begegnen. Es war bloss der kindliche Reflex der Freude am Wiedererkennen.
Nr. 573
Ich war während diesen Umarmungen (den oben ausführlich beschriebenen) nie ganz frei von Bitterkeit. Ein dunkler nagender Gedanke, eine ungewisse Entfremdung vielleicht, ein „Tropfen schwarzer Tinte in klarem Wasser“ – so beschrieb ich das ganz und gar unzutreffend.
Es ist mir überhaupt in letzter Zeit, genaugenommen seit vielen Jahren, seit dem 11. März 1972, völlig unmöglich, irgendwelche gehaltvolle Aussagen über meinen Gefühlszustand machen.
Da gibt es ja nur diese Allgemeinplätze. Welche, wie ich langsam zu vermuten beginne, vielleichte gerade ganz wunderbar zutreffen auf die genauso allgemeinen Gefühlszuständen. Wir sind ja „alle so formiert“, wie Luzia jeweils zu sagen pflegte.
Warum sollte man denn anders erzählen. Ist denn anders erzählen nicht gerade eine Verschleierung dieses Sachverhaltes? Edgar, hast du recherchiert,
wie ich dir befahl, wie ich dich bat?
Na also, die 2000 Seiten waren ja nicht so wild.
Edgar räusperte sich und begann dann vorzulesen:
„Längst hat, auch in der Verfahrensweise von Literatur, etwas wie eine Ideologie des Besonderen sich formiert, eine Konzentration auf unverwechselbare Menschen, als ließe von ihnen noch so sich erzählen wie anno dazumal". Edgar sah auf. Klumpfuss kratze sich am Kopf. Dass es diesen nicht mehr gebe, fuhr Edgar dann fort, seltsam unwirklich in der schläferigen Nachmittagsstimmung des kleinen Cafés, habe seinen Grund darin "daß die Qualitäten, welche die Gesellschaft einmal von ihm verlangte, womöglich die Kategorie des Qualitativen selber, durch die neuen Produktionsmethoden überflüssig werden".
(irgendwo in einem weinroten Buch)
Im Denken, heisst es, weiss man, das man das denkt, was man denkt. Ich denke es. Das Ich, sagte Klumpfuss, soll bekanntlich alle meine Gedanken begleiten. Bei mir aber, fuhr er fort, sprangen die Gedanken dahin und dorthin, und mein Ich war nicht schnell genug. Schliesslich lehnte es keuchend und mit hochrotem Kopf an diese oder jene Wand meines Bewusstseins, und die Gedanken, ohne ortskundige Begleitung, irrten ziellos umher, fielen Klippen runter, wurden mitgerissen von reissenden Bergbächern oder bekamen Krämpfe und starre Glieder ob der Kälte der stillen Bergseen. Nur manchmal konnten sie noch von einem aufmerksamen Vater herausgezogen werden.
Klumpfuss nahm seiner Gewohnheit nach lange Schritte, und Edgar trippelte eilig nebenher, den Block in der einen und einen Bleistiftstummel in der anderen, und nahm krakelige Notizen auf. Es war ein staubiger, offenheisser Sommertag irgendwo in Süditalien, wir können es auch nicht genau lokalisieren. Die letzten schnatternden Amerikaner waren vor einer halben Stunde überholt worden und sie waren nun allein auf der Hochebene, folgten einem berühmten Pfad, welchen, wie es hiess, schon Hannibal oder vielleicht auch nur einige Partisanen gegangen war. Das hatte der Wirt erzählt, seine fettigen Hände an der Schürze abgewischt und ihnen Wein nachgeschenkt. Edgar kam es vor, als ob seither Jahre vergangen waren, dabei war es erst gestern Abend gewesen. Klumpfuss schien den Boden kaum zu berühren und nahm, wie es Edgar vorkam, immer grössere und noch grössere Schritte. Edgar unterdessen beinahe im Laufschritt.
Es ist dieses Gefühl, schrie Karl Klumpfuss gegen den heissen Wind an, das man hat, wenn man ein ehrgeiziges Kind ist und an einem Laufwettbewerb teilnimmt. Auf halber Strecke werden die Beine taub, die Lunge brennt und man meint, die Haut löse sich vom Gesicht ab. So kam es, Edgar, hörst du, schrie Klumpfuss, dass ich sie endlich frei laufen liess und zusah, wie sie sich stritten und sich liebten, sich versammelt und hierhin und dorthin wogen oder vereinzelt sinnend auf und ab gingen.
Am Horizont tauchten Windmüllen auf. Vielleicht doch schon Spanien, wer weiss das so genau? Edgar stolperte voran, Schweiss und Staub in den Augen, Klumpfuss ein hüpfender Dämon, endlos der Wortschwall, leicht überhitzt, dachte Edgar, aber leicht ist vielleicht zu wenig gesagt. Überdies noch keinen Lohn. Klumpfuss letzthin: Die Ehre ist Ruhm genug.
... und ich rief ihnen ab und an was zu, schwoll neben ihm her aus Klumpfuss heraus, und fröhlich antworteten sie mir und klopften mir gütlich auf die Schultern. Freundeten uns nach und nach an, aber wirklich eng, weisst du Edgar, wurde es nicht. Kam nicht ganz an sie heran. Sprachen wohl hinter meinem Rücken über mich, dabei fröhliche Miene vornedurch. Edgar, hörst du mir überhaupt zu? Liess sie dann in Ketten legen und sie mussten Tag und Nacht schufften, auf das mir Ehre zuteil wurde. Aber gingen bald schon ein und es fielen auch keine neuen mehr ein. Seither still im Kopf.
Mir war immer schon der Begriff wichtiger als das Erlebnis, bekannte Klumpfuss ein. Ich glaube, begann er auszuführen, das hat damit zutun, dass meine Eltern zuviel zu mir sprachen. Ich lief ich der Welt herum und freute mich, hier nun den ‚Baum’ zu entdecken und hier den ‚Freund’. Dass ich dann zu lesen begann, verschlimmerte die Sache.
Eine bekannte Schriftstellerin, warf da Edgar ein, hat letzthin in einem angesehenen Magazin behauptet, man müsse mindestens 500 Bücher pro Jahr lesen, um wirklich als ‚Leser’ zu gelten. „Zwei pro Tag liegen doch bei einem normalen Leben durchaus drin. Man muss z.B. nicht immer ausschlafen, oder einkaufen gehen, oder abends ausgehen. Man könnte zum Beispiel auch den ganzen Tag auf dem Sofa rumflätzen.“
Dessen ungeachtet fuhr Klumpfuss fort zu erzählen, er habe z.B. erst im hohen Alter, nämlich vorgestern, realisiert: das ist es, was man 'Sodbrennen' nennt. Ich hätte es vorher, fuhr er verschmitzt fort, auch gar nicht beschreiben können, was man leider normalerweise von mir erwartet, da ich doch Literat sei. Das Singuläre sei der genuine Lokus der Poesie, habe zum Beispiel letzthin einer der Kritiker hingeschmiert, Klümpfüss hingegen so allgemein wie ein Hundertmarkschein. Alle Qualitäten, schrieb er, seien auf Quantität reduziert, dabei sei doch die schöne Literatur der einzige Lokus, wo Schöngeister wie ihrereiner sich von der materiellen Ödnis der, äh, kapitalgeilen Gegenwart erhölen könnten. Er solle zum Beispiel einmal in Gottes schönen Natur rumgehen und Bienen und Blumen beobachten, fernab von Stereotypen und anderer lauter Musik, die seit Elektrizität und salonfähiger Eklektizität ihrer echten Wahrheit verlustig gegangen sei.
Dies alles führte dann dazu, sagte Klumpfuss, den Kritiker mit der Hand beiseitewischend, dass ich regelmässig enttäuscht war, wenn ich Städte besuchte und nur ordinäre Strassen vorfand, die in Paris aus unerfindlichen Gründen immer nach Urin rochen. Ebenso erging es mir, als ich das erste Mal ins Theater gehen durfte, nachdem ich drei fiebrige Jahre vorher die Aushänge studiert hatte, Mittwochs jeweils, wenn das neue Wochenprogramm rauskam, noch vor der Schule zur Anschlagsäule lief und dann in der Mathematikstunde von Monsieur X von der Schauspielerin Mademoiselle Y träumte statt etwas fürs Leben zu lernen. Ich war masslos enttäuscht und im Anschluss daran ein halbes Jahr krank vor Kummer ob der Wirklichkeit. Ich glaube auch Bob Dylan sang einmal ein Lied davon.
Morgen hat diese Seite Geburtstag. Sie wird 1 Jahr oder 365 Tage alt, was sich doch immerhin gewichtig anhört. Man kann das auch in weiteren Zahlen ausdrücken: 77 Beiträge, 28 Kommentare, 9 Bilder, 0 Dateien. Ich verwende dafür stolze 372 KB.
Leserin A schreibt, ich solle wieder mal schreiben. Doch ein anderes mal sagte sie, sie wolle eigentlich lieber von mir hören als von Karl Klumpfuss. Leser B hingegen sieht Karl Klumpfuss nur als oberflächliche Verhüllung von meinem Leben. Natürlich haben beide unrecht, den eigentlich geht es um Edgar, und alle anderen Figuren sind wahrscheinlich nur Manifestationen seines Unterbewusstseins. Vielleicht symbolisieren sie auch verschiedene gesellschaftliche Klassen. Möglicherweise verarbeiten sie auch die neusten Erkenntnisse aus Hirnforschung und Neuroökonomie. Leserin C auf jeden Fall behauptet, es gäbe keinen roten Faden.
Klumpfuss schien da auf einmal aufzuwachen und begann zu dozieren: wir müssen nun von einigen Dingen sprechen, mein Freund. Edgar räusperte sich. Francesca polierte im Hintergrund unauffällig Gläser und hörte mit vier halben Ohren hin und klaubte eifrig ihre bescheidenen Deutschkenntnisse hervor. Der Gastraum war, wir müssen auch von der Einrichtung sprechen, die Edgar eifrig erfasst hatte, eher karg. Der hellgelbe Putz war alt, fleckig und an mehreren Stellen schon abgefallen. Der Boden war mit milchweissen Fliessen belegt, drei kleine Tische mit jeweils 3 Stühlen und die alte, etwas klobige Bar, davor fünf Hocker, dahinter eine Wand voller Flaschen, bildeten die ganze Einrichtung.
Die Grundlage eben deshalb, weil ich damals beschloss, verzweifelt und optimistisch, wie ich damals war, einen Verkaufsschlager, man sagt heute, wenn ich mich nicht irre, Bestseller dazu, bitte streiche diese Stelle wieder, Edgar, sie behagt mir nicht, einen Verkaufserfolg zu schreiben. Das 500seitige Manuskript, welches ich 3 Wochen später in den Händen hielt wie ein neugeborenes Kind, ich nannte es Gregor, wurde rundum bewundert und ich zog bald darauf in eine bessere Wohnung in einer besseren Gegend und verschenkte meine Möbel, insbesondere eine alte Kommode. Davon aber später. Was ich auch noch festhalten möchte, ist das Folgende. Du wirst dich, Edgar, erinnern an unsere folgenschweren Gespräche in Mailand, vor einigen Wochen. Nein, du brauchst keinen direkten Verweis zu setzen, geneigte Leserinnen und Leser werden wissen, wovon wir sprechen. Dazu also das folgende: Justus Wönzel-von Ützel, lesender Freund und eifriger Leser meiner frühen Erzählungen, war damals schon, 1970 als wir beide jung waren, stets darauf erpicht, zwischen Luzia und der Wirklichkeit Verbindungen, Verbandlungen und Anbandlungen aufzufinden. Dagegen ist, wie ich das damals schon einwandte und heute noch einwende, mit Carl Friedrich Carlfriedrich einzuwenden, dass "Fiktionen vielmehr performative Transformationen lebensweltlicher, mit Freud gesagt, Tagesreste darstellen" und dass sie "keinesfalls real interpretiert werden dürfen, im Gegenteil durchaus erlogen sind von Kopf bis Fuss, und auf Herz und Nieren geprüft und durchforstet werden können, ohne dass auch nur ein Jota Realgeschehen vorgefunden werden kann." (C.F. Carlfriedrich: Anatomie der Literaturwissenschaft (mit herausklappbarem Schaubild), München 1983). Vielleicht können wir daraus eine Fussnote machen. Da lies Francesca absichtlich ein Glas fallen.