tierpark

Edgar oder Der Privatsekretär

Irgendeine Nichtigkeit, an die wir uns heute beide nicht mehr erinnern.

Während ich also ein undeutliches Erinnern mimte (ich tat so als ob ich mich Lucia nicht entsinnen konnte), dachte ich freudig an die letzten Wochen, während denen ich mich zunächst hie und da und dann bald schon täglich mit Lucia getroffen hatte. Es hatte begonnen mit einer kleinen Lüge, aber wen kümmert so was jetzt, mich zumindest nicht und sie wusste nicht darum und weiss, soviel mir bekannt ist, auch heute noch nicht darum. Aber wir sollten nicht so eilig vorwärts preschen, alles schön der Reihe nach, eines nach dem anderen. Lucia sagte: "Gut Ding will Weile haben. Ich geh jetzt besser nach Hause." So war das gewesen, kurz bevor Justus Wönzel-von Ützel die Treppe raufgestürmt kam und um ein Haar mit Lucia zusammengestossen wäre. "Was wäre so schlimm daran gewesen?", fragte Edgar kopfkratzend stirnrunzelnd.

Edgar, da ist er wieder. Wir hatten ihn schon vermisst. Edgar - für diejenigen, die später zu uns gestossen sind - Edgar ist der treue Privatsekretär Karl Klumpfuss', angeheuert vor einiger Zeit, sagen wir mal, vor ein paar Monaten, im damals noch winterlich kalten grauen nassen ungemütlichen Zürich (der vierte Oktober war es, genaugenommen. Also möglicherweise doch ein schöner sonniger Herbsttag, und Klumpfuss und Edgar statt in der Kronenhalle das Anstellungsgespräch zu führen flanieren der Seepromenade entlang, knietief in gelben und roten Laub, und Klumpfuss legt schon bald seine Hand auf Edgars Schulter und sagt, dass er die Anstellung habe, wenn er sie wolle, wovon er, Karl Klumpfuss, ohnehin ausgehe). Mittlerweile sind sie über Italien und einem von der Forschung noch nicht lokalisierten Dinner auf eine Insel gelangt, wie das Protagonisten seit eh und je geschieht, ein beliebter Topos, wie sie alle wissen, sie brauchen das also wirklich nicht aufzuschreiben. (Aufgeregtes Gemurmel.) Na, mir soll's recht sein, tun sie was sie nicht lassen können. Zu meiner Zeit... aber lassen wir das. Auf einer Insel also, wo Emilia Pompe, bildhübsche Tochter des Gouverneurs, Erinnerungen an Lucia weckte. Die Begegnung war, wie Klumpfuss später in seinem Tagebuch notieren sollte, vergleichbar beinahe mit Prousts heutzutage leider zum Gemeinplatz verkommenen (Aufgeregtes Gemurmel.) Biss in die Madeleine.
Aber hören sie, wenn ich immer diese Rekapitulationen machen muss, ist die Stunde um, vor dem wir überhaupt einen Schritt weitergekommen sind. Wir haben dieses Semester noch viel vor, ich muss ihnen von meinen neusten Forschungen erzählen.

Edgar also fragt, warum er, Klumpfuss, fürchtete, dass jener, Justus Wönzel-von Ützel, ihr, Lucia, hätte begegnen können im Treppenhaus, wenn sie, Lucia, nicht diese unertrügliche Vorahnung gehabt hatte und mitten im Kuss, es war erst der zweite oder dritte, den wir gewechselt hatten, und wir waren, so fand ich, Karl Klumpfuss, langsam richtig warm geworden dabei, wenn Lucia also nicht mitten im Kuss gesagt hätte: "Gut Ding will Weile habe." Mich ziemlich verdutzt zurücklassend nahm sie ihre Tasche und ging, kam wieder, stürmte ins Bad und kämmte ihre Haare, um dann hastig und polternd im Treppenhaus zu verschwinden.

Die Sache nämlich war, dass Wönzel-von Ützel, wie man schon längst ahnt, sich einige Hoffnungen machte, welche Lucia zudem auch noch sich zu schüren befleissigte. Dabei hätte ihre Schönheit längst dafür ausgereicht, wir waren ja beide vom ersten Moment an hin und weg, was nur allzubald in unsere vorher untrübbare Freundschaft sickerte (schon zwei oder drei Tage nach ihrem Auftauchen sind wir uns das erste Mal in die Haare geraten, um irgendeine Nichtigkeit willen, an die sich heute niemand mehr erinnert, ausser Wönzel-von Ützel, der schon immer nachtragend war und zudem ein Elefantengedächtnis ist).

Sie hatte mir damals erklärt: dass der Schwager des Bruders tief in Schulden stand bei Wönzel-von Ützels Mutters Onkels Firma, irgendetwas mit Import/Export, wie sie sagte, und mit denen, das wisse man, sei, wie man wisse, nicht zu spassen. Und da Familie, wie sie sagte, dort wo sie herkam wichtiger sei als Ehrlichkeit und anders als hier bei uns ... undsoweiter. Deshalb also, erklärte sie mir, und diese Erklärung war, wie ich später herausfand, gelogen, glattweg gelogen sogar, deshalb also sollte dies zwischen uns zwei zumindest jetzt am Anfang besser im Geheimen geschehen, was zudem überhaupt viel aufregender sei, ob ich das nicht auch fände? Ich fand das zwangsläufig auch, und so nahm das Doppelspiel seinen Lauf.

"Und Ihre Lüge?", fragt Edgar, eifrig aber vergeblich bedacht, die Kohärenz des ausufernden Manuskripts zu wahren. "Meine Lüge, sagen Sie", fuhr ihn Klumpfuss an, "Sie bezichtigen mich also der Lüge. (Zum Publikum gewandt, welches im Moment aus drei alten zahnlosen Männern bestand, die nur die lokale Variante des Italienischen verstanden, das mehr an das harsche Kreischen der zahlreichen Seemöwen erinnerte als an eine Sprache, und weit weg, wie der Mond von uns Menschen, von der Sprache Dantes und Garibaldis schien, wie Klumpfuss manchmal zu sagen pflegte, wenn er schlecht aufgelegt war, was in letzter Zeit allzuoft geschah) Was für eine Brut nähre ich da an meiner Brust?" Edgar knirschte mit den Zähnen und zwang sich, kommentarlos weiterzuschreiben.

Gemeinplatz.

madeleines

All things indeed are pure.

Ich dachte gerade über Gemeinplätze nach, als meine Türglocke aufgeregt schrillte und ein sichtlich aufgewühlter Justus Wönzel-von Ützel das Treppenhaus raufgeschnauft kam, hochrot und, wie er sagte, mit einem Kloss im Hals, einem nervösen Magen und einem klopfenden Herz, gib mir bitte einen Schnaps, wenn du so was im Haus hast, bestimmt hast du so was im Haus.

Er solle reinkommen und sich setzen, rief ich aus: "Wönzel-von Ützel, komm rein und setz dich, du siehst aus, als ob du dem Teufel persönlich begegnet wärst". Aber von wegen Teufel. "Lucia", sagte er entgeistert, oder vielleicht eher begeistert.

Ich schluckte leer.

Denn eben jene Lucia war vor einer knappen halben Stunde aus meiner Tür getreten. In den entlegeneren Zimmerecken hing noch ihr Parfüm in der Luft, ein ganz wunderbares Parfüm, irgendetwas mit Blumen, wenn ich mich recht entsinne (roch nicht Emilia Pompe ganz ähnlich?), und ich hatte an diesem Abend meine liebe Mühe damit, meinen damaligen Freund Wönzel-von Ützel durch scheinbar spontane Einfälle von diesen Ecken wegzulocken, da er, so dachte ich, ohne Zweifel die Lunte riechen würde.

Es war also, das ist sicher, Sprengstoff genug in unserer Beziehung, und tatsächlich kam es wenig später auch zum Bruch, wenn auch letztlich Lucia uns beiden die kalte Schulter zeigte.

"Ich habe", sagte ich beispielsweise (um ihn wegzulocken), "gerade den Einfall, dass wir uns auf die andere Seite des Raumes begeben könnten, denn siehe, von hier aus, nein! nicht von dort drüben, das geht überhaupt nicht, von hier aus sieht man, ähem, den wunderschönen romanischen gotischen barocken Kirchturm, etc.". "Lucia", sagte unbeirrt Wönzel-von Ützel, mein damaliger Freund, "Lucia heisst sie, das Mädchen, du weiss doch, die Tochter der Bekannten der Freundin meiner Mutter." Lucia war vor wenigen Wochen in die Stadt gezogen mit der Telefonnummer des Sohnes einer Freundin einer Bekannten in der Hand, als einziger nennenswerter Kontakt, und so klingelte kurz darauf bei meinem damaligen Freund Justus Wönzel-von Ützel das Telefon, zurückhaltend und etwas nervös. "Wönzel", sagte er, und eine kleine Stimme erklärte sich ihm, was dann dazu führte, dass kurz darauf zwischen mir und Wönzel-von Ützel Lucia an der Theke sass. So begann diese Geschichte, und sie sollte bald Wendungen nehmen, die niemand geahnt hatte, am allerwenigsten ich selbst, fand ich doch Lucia damals, neben mir an den Tresen, ziemlich ordinär - oder immerhin langweilig, wenn auch, dies musste ich später an jenem Abend, als Wönzel-von Ützel und ich uns auf dem Nachhauseweg befanden, nach einigem Nachhacken seinerseits zugeben, sie vielleicht gar nicht so schlecht aussah, wie ich vorsichtig formulierte.

Seither war viel Wasser jenen trägen grünen Fluss in unserer Stadt runter geflossen und während ich vordergründig an meinem Urteil festhielt und vor Wönzel-von Ützel ein undeutliches Erinnern mimte - "Lucia, Lucia...? Ach Lucia, ja genau, die Tochter der Bekannten der Freundin deiner Mutter, jetzt erinnere ich mich undeutlich daran, das war vor einigen Tagen. Was sagst du, vor einigen Wochen? Es erschreckt mich immer wieder, wie schnell die Zeit vergeht, und je älter wir werden, desto schneller scheint sie zu vergehen, etc." - während ich also ein undeutliches Erinnern mimte, dachte ich freudig an die letzten Wochen, während denen ich mich zunächst hie und da und dann bald schon täglich mich mit Lucia getroffen hatte.

Zwischenbemerkungen

Auch schön, wie das gerade so passte am Schluss; beinahe unglaubwürdig. Auf jeden Fall: Bald darauf ging Klumpfuss nach Hause, wo wir ihm vor einigen Tagen begegneten, aufgewühlt von alten Erinnerungen in seinem Hotelzimmer hin und her gehend. Geneigte Leserinnen und Leser haben allerdings die offensichtlich eingestreuten Hinweise schon längst bemerkt und erwarten gespannt die Fortsetzung eines mehrmals angekündigten aber nie erzählten Ereignisses. Vielleicht klappt es diesmal.

Der Balkon

Karl Klumpfuss: (Räuspert sich)
(Emilia Pompes Zigarette knistert und das glimmende Orange glüht auf. Sie atmet hörbar aus. Klumpfuss tritt auf den Balkon heraus, hält sich unsicher am Jugendstilgeländer fest, schliesst kurz die Augen und wendet sich dann entschlossen der schönen Emilia zu.)
Klumpfuss: Nun...
Emilia: ...
Klumpfuss: Trefflich diese Abendstimmung. Ich fürchte ich störe Sie?
Emilia: ...
Klumpfuss: Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich werde wollte hier nur kurz etwas Erhohlung geniessen vom Trubel in der Haupthalle. - Er ist auch hier noch, wenn auch etwas gedämpft, deutlich hörbar, obwohl ich, wie ich schätze, durch mindestens fünf Türen hierhergefunden habe. - Ich mag dieses distanzierte Teilnehmen wirklich sehr, viel mehr als mitten drin zu stehen. - Es war im Übrigen ein ganz ähnlicher Abend, welcher mich auf diese Insel geführt. Aber bestimmt haben Sie die Geschichte gehört und von meinem Los gelesen in der hiesigen Zeitung. - Warten Sie mal, ich werde Ihnen Feuer geben. (Klumpfuss kramt in seiner Tasche bis er eine Schachtel Zündhölzer findet, streicht eines an (der schwefelige Geruch sticht in seine Nase und erinnert ihn an etwas unbestimmtes), schützt mit der hohlen Hand die Flamme gegen die leichte Brise und tritt erst dann näher zur schweigsamen jungen Dame hin. Jene neigt ihren Kopf über die Flamme und lächelt ihn dankbar an. Ein Erschauern steigt Klumpfuss' Rückenmark hoch. Sein linkes Augenlid zuckt einige Male unkontrolliert. Emilia öffnet ihren Mund.)
Emilia: Leisten Sie mir doch eine Weile Gesellschaft.
Klumpfuss: ...
Emilia: Kommen Sie, erklären Sie mir doch die Welt.
Klumpfuss: ... ah, nun. Sehen Sie, (er legt dem Mädchen die Hand auf die Schulter und zeigt mit der anderen in die Nacht hinaus) dort drüben, jenes helle Licht, nein, nicht dieses, das andere (Emilia lacht leise), dort befindet sich, nun dort befindet sich ... sie kennen Alfonso IX, nicht war, man lernt über ihn in der Schule und es gibt in dieser Stadt ein vorzügliches Museum [welches wohl einzig übertroffen wird vom berühmten Rattle Snake Museum in Albuquerque/New Mexico] ... Alfonso IX also, jener wackere Beschützer Ihrer schönen Insel und Erbauer der Castillo de Santa Emilia ... Santa Lucia, entschuldigen Sie ... dort drüben also das Licht ...
Emilia: Schon gut, gehen Sie besser uns etwas zu trinken suchen. Ich werde hier auf Sie warten, wenn sie sich nicht zu viel Zeit lassen.
(Klumpfuss ab. Er irrt durch die Gänge auf der Suche nach einer Hausbar oder einem dienstbaren Geist.
Ulriko Montagne unterdessen macht die Bekanntschaft mit Edgar, welcher sich an diesem Abend ausserordentlich vergnügt, für einmal befreit von dem beständigen Notieren, welches die Anstellung bei Klumpfuss mitsichbringt. Bedauerlicherweise muss er sich aber immer vorsprechen, was geschieht, die bald zweijährige Anstellung lässt sich nicht von einer Stunde auf die nächste abschütteln. 'Ich vergnüge mich ausserordentlich', sagt er sich beispielsweise, 'ich werde jetzt da rüber gehen und vielleicht auch einen, ha, einen Tanz riskieren (diese Formulierung würde er bestimmt streichen, oh ja)'.
Emilia beginnt allmählich zu fürchten, dass Klumpfuss nicht wiederkehren wird. Sie fröstelt und stellt sich einen galanten Kittel vor, der um ihre Schultern gelegt werden könnte. Dann aber taucht Klumpfuss doch noch mit zwei Gläsern Champagner im Grau des Salons auf, stellt sie auf das hilfreiche Tischchen, zieht seinen Kittel aus und legt ihn um ihre Schultern.)

Emilia Pompe

Die erste Veröffentlichung in der hiesigen Lokalzeitung sei nämlich auf Unverständnis, Hass und Zorn gestossen und man habe sich gerade noch ins Haus des Gouverneurs retten können, wo immerhin gerade ein rauschendes Fest zu Ehren des Gouverneurs Tochter stattfand. Emilia Pompe war zwanzig, feingliedrig und verklärt. Wenn sie nachdachte, verdunkelte sich ihr Gesicht, und (dies alles schildert der später zu einiger Berühmtheit gekommene Ulriko Montagne, damals ein scheuer junger Mann, dessen Gedichte regelmässig von der Lokalzeitung retourniert wurden) wenn sie nach einigen Minuten antwortete, schien es von tief drinnen hervorzuquellen. - Nicht dass es was besonderes gewesen wäre, schrieb Klumpfuss in jener selben Nacht noch (eigentümlich berührt in seinem Hotelzimmer, welches ihm auf einmal sehr leer erschien), nicht das war es, im Gegenteil, wenn man ehrlich ist, und gleichwohl... Es war ihm, das war es, eine Episode eingefallen, eine längst vergessene Episode seines an Episoden (um eine Phrase zu benutzen, welche jener gerne in Interviews anwandte) nicht armen Lebens, im Gegenteil, man könnte ohne Übertreibung (wie er versicherte) davon sprechen, das es reich gewesen war an Episoden, auf jeden Fall reicher als jenes seines Freundes Justus Wönzel-von Ützel, von dessen Schriften (wie er nachzureichen pflegte) Sie bestimmt noch nichts gehört haben, welche aber gar nicht so schlecht sind, wie es die meinen, die schon davon gehört haben.
Während also die oberen zweihundert Bürger jener kleinen Insel, auf welcher der bedauernswerte Karl Klumpfuss seit Monaten gestrandet war, sich im ausgelassenen Fest vergnügten in der Art, wie dies in unseren Provinzhauptstädten geschieht und worüber nicht ohne Unrecht wir in der Hauptstadt die Nase rümpfen, war der mit einem Glas nach dem anderen durch die Räume steuernde Klumpfuss auf einen abgelegenen Balkon geraten. Dortselbst befand sich wie ein Wink des Schicksals (nicht meine Formulierung) Emilia Pompe, eben dem rührseligen Ulriko Montagne entkommen, und rauchte in ihrem dünnen weissen Seidenkleid leicht fröstelnd eine parfümierte indische Zigarette aus dem Schreibtisch ihres Vaters und hiesigen Gouverneurs (in dessen weitläufigen Haus wir uns, wie man sich erinnern soll, schon seit längerer Zeit befinden). Klumpfuss räusperte sich und trat zu ihr heraus. Das Mädchen schien ihn erwartet zu haben oder war auf jeden Fall nicht erstaunt ob seinem Kommen.
Darüber sann er nach, und es fiel ihm jene längst vergangene Geschichte ein, die damals beinahe zum Bruch zwischen ihm und Wönzel-von Ützel geführt hatte.
Wir sollten aber zuerst über Emilia Pompe erzählen, und werden bei Gelegenheit auf jene andere Sache zu sprechen kommen können.

Jüngst gezeigt.

Derweil draussen Himmel und Hölle bewegt, die Welt auf den Kopf gedreht und tüchtig ausgeschüttelt und der Schmutz von Jahrtausenden ausgekehrt wurde, bekannte Klumpfuss ein, sei er drinnen gewesen und hätte gelesen.

Seine Kommilitonen sitzen unterdessen alle in diesem oder jenem Verwaltungsrat und schröpften Millionen. Die meisten verheirateten sich eben zum dritten Mal, haben aber schon die nächste Geliebte im Auge, mit der sie auf Geschäftskosten nach Amerika fliegen und sich in teuren Hotelzimmern vergnügen werden. So zumindest werde es von reaktionären Zeitschriften gerne und oft kolportiert.
Er aber habe letzthin einen getroffen, dem hätte es übel mitgespielt: er könne sich und seine fünfundzwanzig Kinder nur notdürftig über Wasser halten als Betreiber eines spirituellen Zentrums im Berner Oberland. Allein das Essen verschlinge Unsummen, wie man sich vorstellen könne; bei den unterdessen gestiegenen Preisen sowieso. Auch hätten die Katholiken wieder vermehrt Zulauf und New Age erscheine vorgestrig - man hätte aber eine global agierende Agentur engagiert, welche sich Konzepte ausdenken würde. Etwas müsse da schon zu machen sein. Aus mehr als Revivals bestehe das Neue und Neuste sowieso schon lange nicht mehr.

Dies sei aber sowieso alles schon eine Weile her. Wir erinnern uns: Klumpfuss an einer vornehmen Dinner Party, hier ein Ohr voll Gespräch, da ein Glas Weisswein, dort ein flüchtiger Blick in ein Dekolleté, und schon bald gänzlich im Banne eines charmanten Engländers namens Charles Dickens oder Darwin, der ihm eine vermeintliche sine cura auf einer netten Insel im Mittelmeer andrehte. Das ganze war nicht ganz sauber, keine Frage. Aber er, Klumpfuss, war etwas leichtgläubig, schon immer gewesen und auch im Alter nicht klüger geworden, wie sich jüngst wieder prächtig gezeigt hätte.

Deshalb sässe Klumpfuss, so diktierte jener dem treuen Edgar in die Feder, nun bekanntlich auf einer trostlosen Insel fest, ohne Pass, Ruhm oder Ehre, daran täte es Not zu erinnern. Auch müsse man in Zukunft mehr darüber erzählen, einstweilen aber hätte man die eigene Existenz im Weltgeschehen gespiegelt darstellen wollen, wofür vor einigen Tagen die ersten Skizzen angelegt worden seien. Dies müsse aber hier zur Erklärung nachgeschoben werden. Die erste Veröffentlichung in der hiesigen Lokalzeitung sei nämlich auf Unverständnis, Hass und Zorn gestossen und man habe sich gerade noch ins Haus des Gouverneurs retten können, wo immerhin gerade ein rauschendes Fest zu Ehren des Gouverneurs Tochter stattfand.

Gehirnscan, schreiben die Zeitungen, sei vonnöten.

An einem windstillen Sonntagmorgen notierte Cartesius in sein privates Cahier, dass das einzig gewisse sei: dass er denke. Das war immerhin schon etwas. Darauf, war er überzeugt, liesse sich bauen. Er hob seinen Blick vom Heft und beobachtete sehnsüchtig die Nachbarstochter, die - wahrhaft biblisch und insofern könne sein Blick, das würde jeder bestätigen, als durchwegs sittlich gelten - Wasser vom Brunnen schöpfte. Marianne Fournier war zwanzig Jahre alt und zweifellos, so dachte der seiner selbst gewisse Cartesius, bildhübsch, aber er konnte sich weiss Gott keine Heirat leisten. Nun auf einmal übelgelaunt, nachdem der Tag doch so selbstsicher angefangen hatte, tunkte er den Gänsefederkiel ins Tintenfass und kratzte einige diesmal eher lustlose Zeilen hin.

Unterdessen bewegen wir uns einige Jahrhunderte vorwärts. Gehirnscan, schreiben die Zeitungen, sei vonnöten, um früh genug verbrecherische und sittenwidrige Individuen zu erkennen und in ihrem eigenen Interesse der Besserung zuzuführen. Insgeheim, so schreibt Karl Klumpfuss, denken auch die liberalsten unter uns, dass dies wohl nicht gänzlich verkehrt sei oder doch wenigstens zum grössten Glück der grössten Zahl führe; wenn auch sie natürlich dies öffentlich nicht verlauten würden, sondern gewaltig ihre Stimme dagegen erheben und Aufklärung, Anstand und Altphilologie herbeizitieren.

Schliesslich meldete sich auch der Pontifex zu Wort und verteidigt die Freiheit zum Bösen, denn auch seine Priester vergingen sich immer wieder Mal. Die Fleischlichkeit mache doch erst den Menschen aus. Aber Sorgen müsse man gleichwohl keine wälzen, denn die Hoffnung werde uns erlösen: in spe salvi, wie er bedeutungsschwer nachschob.

Derweil im gutpreussischen Königsberg wird erinnert, was von der "Anheischigmachung König Franz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften erzählt wird: was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will auch ich haben." Folglich: "Empirische Bestimmungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äusseren Gesetzgebung, aber eben so wenig zur innern; denn jeder legt sein Subjekt, ein anderer aber ein anderes Subjekt der Neigung zu Grunde, und in jedem Subjekt selbst ist bald die, bald eine andere im Vorzuge des Einflusses."

Die Dynamik des Welthandels

"Zum Beispiel steht da", sagt Karl Klumpfuss zum eifrig notierenden Edgar (wir erinnern uns des Hintergrundes, weswegen er hier nicht wiederholt werden muss), "ich müsse mal etwas schreiben, das beginnt mit der selbstgewissen Wendung: 'Es tut Not daran zu erinnern, dass ...'"
Edgar malte das in seiner aparten Handschrift gewissenhaft hin hatte und hielt sich bereit, den Fortgang dieses in Stein zu meisselnden Satzes festzuhalten. Klumpfuss aber schon längst abwesend. "Gewiss ist, wenn nichts anders gewiss ist", nahm Edgar einen vergangen Faden wieder auf, in der Hoffnung, den schweigend sinnierenden Klumpfuss wieder zum Reden zu bringen, "dass ich alle meine Gedanken muss begleiten können, ansonsten nämlich, und dies sei doppelt unterstrichen, wären sie nicht meine Gedanken, sondern von mir aus irgendwelche." Klumpfuss sah schweigend auf die Strasse den Passanten hinterher, oder vielleicht betrachtete er auch nur sich selbst im gegenüberliegenden Schaufenster. Es war ein klarer, wind- und wolkenloser Tag und schon seit dem Morgen lag bleierne Hitze über die kleine Insel, in der Klumpfuss und sein Privatsekretär nun schon seit drei Monaten festgehalten waren. Klumpfuss fluchte. Edgar hatte wieder einmal den ganzen Morgen beim Polizeipräfekten verbracht, und noch immer bekamen sie ihre Pässe nicht wieder, ohne die sie nicht ausreisen konnten. In der Ferne hörten sie das lange Tuten eines auslaufenden Schiffes.
Es tut Not daran zu erinnern, wie die beiden hierher kommen. Alles begann vor einigen Monaten, als Klumpfuss in eine Gesellschaft geladen war und ins Gespräch kam mit einem englischen Gentleman. Er sei im Handel tätig, hatte dieser gesagt, und Klumpfuss hatte verständnisvoll genickt und zwei drei angemessene Fragen gestellt. Der Baumwollepreis sei wieder, wie man lese, gestiegen, und mit dem Bau des Suez-Kanals würde sich, wie man höre, und man sei ja zufälligerweise in eigener Person letzthin in Ägypten gewesen und hätte selbst vom Fortschritt Augenschein nehmen können, der Bau also würde der Dynamik des Welthandels einen ganz neuen Drall geben. Klumpfuss also dieserart hin und her geredet und sich glänzend unterhalten, ab und an ein neues Glas vom Tablett des aparten Dienstmädchens mit den glänzenden Augen. Bald vergrösserte sich der Kreis der Hörer und es fielen Einwände von Männern, welche in der anderen Zeitung etwas ganz anders gelesen hatten oder aufgrund ihres aus langjährigen Beschäftigung geschöpften profunden Wissens zu bezweifeln wagten, bald verkleinerte sich der Kreis wieder - ja, ich nehme noch ein Glas - verkleinerte sich, wie gesagt, der Kreis wieder und ich und er standen bald wieder allein. Und just dann, als wir unter zwei Augen waren, bot er mir die Stellung an, die mich hierher geführt auf diese trostlose Insel, wo als erstes mir mein Pass weggenommen wurde und auf der ich seither festsitze ohne Aussicht, dass sich meine Lage bald ändern werde. Hochachtungsvoll, schrieb Klumpfuss schwungvoll unter das Schreiben, signierte es mit vollem Namen und Dienstnummer, faltete den Brief und zwängte es ärgerlich in ein Kuvert, welche er hernach Edgar reichte zum versiegeln.

Das Erlebnis.

Mir war immer schon der Begriff wichtiger als das Erlebnis, bekannte Klumpfuss ein. Ich glaube, begann er auszuführen, das hat damit zutun, dass meine Eltern zuviel zu mir sprachen. Ich lief ich der Welt herum und freute mich, hier nun den ‚Baum’ zu entdecken und hier den ‚Freund’. Dass ich dann zu lesen begann, verschlimmerte die Sache.

Eine bekannte Schriftstellerin, warf da Edgar ein, hat letzthin in einem angesehenen Magazin behauptet, man müsse mindestens 500 Bücher pro Jahr lesen, um wirklich als ‚Leser’ zu gelten. „Zwei pro Tag liegen doch bei einem normalen Leben durchaus drin. Man muss z.B. nicht immer ausschlafen, oder einkaufen gehen, oder abends ausgehen. Man könnte zum Beispiel auch den ganzen Tag auf dem Sofa rumflätzen.“

Dessen ungeachtet fuhr Klumpfuss fort zu erzählen, er habe z.B. erst im hohen Alter, nämlich vorgestern, realisiert: das ist es, was man 'Sodbrennen' nennt. Ich hätte es vorher, fuhr er verschmitzt fort, auch gar nicht beschreiben können, was man leider normalerweise von mir erwartet, da ich doch Literat sei. Das Singuläre sei der genuine Lokus der Poesie, habe zum Beispiel letzthin einer der Kritiker hingeschmiert, Klümpfüss hingegen so allgemein wie ein Hundertmarkschein. Alle Qualitäten, schrieb er, seien auf Quantität reduziert, dabei sei doch die schöne Literatur der einzige Lokus, wo Schöngeister wie ihrereiner sich von der materiellen Ödnis der, äh, kapitalgeilen Gegenwart erhölen könnten. Er solle zum Beispiel einmal in Gottes schönen Natur rumgehen und Bienen und Blumen beobachten, fernab von Stereotypen und anderer lauter Musik, die seit Elektrizität und salonfähiger Eklektizität ihrer echten Wahrheit verlustig gegangen sei.

Dies alles führte dann dazu, sagte Klumpfuss, den Kritiker mit der Hand beiseitewischend, dass ich regelmässig enttäuscht war, wenn ich Städte besuchte und nur ordinäre Strassen vorfand, die in Paris aus unerfindlichen Gründen immer nach Urin rochen. Ebenso erging es mir, als ich das erste Mal ins Theater gehen durfte, nachdem ich drei fiebrige Jahre vorher die Aushänge studiert hatte, Mittwochs jeweils, wenn das neue Wochenprogramm rauskam, noch vor der Schule zur Anschlagsäule lief und dann in der Mathematikstunde von Monsieur X von der Schauspielerin Mademoiselle Y träumte statt etwas fürs Leben zu lernen. Ich war masslos enttäuscht und im Anschluss daran ein halbes Jahr krank vor Kummer ob der Wirklichkeit. Ich glaube auch Bob Dylan sang einmal ein Lied davon.

on the same morning, or a couple of days later, on the terrace.

Du bist nicht angemeldet.

oh, they don't go to sleep, quelle idée.

Discontinued
nämlich ist ab Mai 2010 hochzusammengesetzt abgeschlossen...
hochzusammengesetzt - 14. Sep, 20:37
So, so. Wieder heimlich...
So, so. Wieder heimlich am Schreiben.
nuss - 25. Mai, 13:39
Eine thierisch und ekelhaft...
Während Otto Brodt sich noch immer in sein Studierzimmer...
hochzusammengesetzt - 23. Mai, 19:21
zum Tag der Arbeit
Brutal ist das, sagte er mit Nachdruck, total abartig...
hochzusammengesetzt - 24. Aug, 00:35

dostoevski liked it with raspberry syrup.

reconstruct the deepest past.

 

stop saying 'the player'. it is either you or me.

Online seit 6320 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 14. Sep, 20:37

firmly outlined with the point of a stick.

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