Edgar oder Der Privatsekretär
Klumpfuss schien da auf einmal aufzuwachen und begann zu dozieren: wir müssen nun von einigen Dingen sprechen, mein Freund. Edgar räusperte sich. Francesca polierte im Hintergrund unauffällig Gläser und hörte mit vier halben Ohren hin und klaubte eifrig ihre bescheidenen Deutschkenntnisse hervor. Der Gastraum war, wir müssen auch von der Einrichtung sprechen, die Edgar eifrig erfasst hatte, eher karg. Der hellgelbe Putz war alt, fleckig und an mehreren Stellen schon abgefallen. Der Boden war mit milchweissen Fliessen belegt, drei kleine Tische mit jeweils 3 Stühlen und die alte, etwas klobige Bar, davor fünf Hocker, dahinter eine Wand voller Flaschen, bildeten die ganze Einrichtung.
Die Grundlage eben deshalb, weil ich damals beschloss, verzweifelt und optimistisch, wie ich damals war, einen Verkaufsschlager, man sagt heute, wenn ich mich nicht irre, Bestseller dazu, bitte streiche diese Stelle wieder, Edgar, sie behagt mir nicht, einen Verkaufserfolg zu schreiben. Das 500seitige Manuskript, welches ich 3 Wochen später in den Händen hielt wie ein neugeborenes Kind, ich nannte es Gregor, wurde rundum bewundert und ich zog bald darauf in eine bessere Wohnung in einer besseren Gegend und verschenkte meine Möbel, insbesondere eine alte Kommode. Davon aber später. Was ich auch noch festhalten möchte, ist das Folgende. Du wirst dich, Edgar, erinnern an unsere folgenschweren Gespräche in Mailand, vor einigen Wochen. Nein, du brauchst keinen direkten Verweis zu setzen, geneigte Leserinnen und Leser werden wissen, wovon wir sprechen. Dazu also das folgende: Justus Wönzel-von Ützel, lesender Freund und eifriger Leser meiner frühen Erzählungen, war damals schon, 1970 als wir beide jung waren, stets darauf erpicht, zwischen Luzia und der Wirklichkeit Verbindungen, Verbandlungen und Anbandlungen aufzufinden. Dagegen ist, wie ich das damals schon einwandte und heute noch einwende, mit Carl Friedrich Carlfriedrich einzuwenden, dass "Fiktionen vielmehr performative Transformationen lebensweltlicher, mit Freud gesagt, Tagesreste darstellen" und dass sie "keinesfalls real interpretiert werden dürfen, im Gegenteil durchaus erlogen sind von Kopf bis Fuss, und auf Herz und Nieren geprüft und durchforstet werden können, ohne dass auch nur ein Jota Realgeschehen vorgefunden werden kann." (C.F. Carlfriedrich: Anatomie der Literaturwissenschaft (mit herausklappbarem Schaubild), München 1983). Vielleicht können wir daraus eine Fussnote machen. Da lies Francesca absichtlich ein Glas fallen.
Wofür der Grundstein
gelegt worden sei, wollte Edgar wissen. Draussen auf dem Dorfplatz heulten derweil die Mofas auf. Es dunkelte langsam ein. Francesca brachte noch 2 Grappa.
Klumpfuss schaute ihr irritiert nach.
Wofür, wiederholte er abwesend.
"
Damals", hob Klumpfuss an, rührte dann erstmal bedächtig seinen Espresso um, nippte am Grappa und schaute sinnierend dem Rauch seiner Zigarre nach, "damals wurde der Grundstein gelegt". Edgars Finger flogen derweil über die Tasten, um zusätzlich zu Klumpfuss' im Moment (wie Edgar dachte) dankenswerterweise langsam dahinplätschernden Rede die vom Meister verlangten "Umweltfaktoren" (wie er es nannte)
Bedienung, Musik, Stimmung, Lokalkolorit, Historisches, literarische Vergleiche einzufangen, nachzuschlagen, durchzudenken und abzulegen.
Karl Klumpfuss sass vor seiner Schreibmaschine der Marke Apfelsine und fluchte; das Farbband war gerissen, die Typen hatten sich verhakt und die Walze klemmte. Die flugs gebrieftaubte Firma Apfelsine weigerte sich mit haarsträubenden Begründungen, irgendwelche Kosten zu übernehmen. So blieb nur der Müllcontainer im Hinterhof.
Der Wind presst sich wollüstig gegen das Fenster, Schneeflocken wirbeln verzückt durchs mattorange Licht der Strassenlampe, Klumpfuss steht im Nachthemd da, die Decke um die Schultern gewickelt, und schaut auf die Strasse. Mit Lust und Schmerz drückt er seine Hände an den glühenden Heizungskörper, der unter dem Fenster verzweifelt gegen die Kälte rauscht und klopft. Wie das so ist bei alten Heizungskörpern, wie Klumpfuss vor einigen Stunden dachte, als er schlotternd im Bett lag und den unbekannten Geräuschen des Hotelzimmers lauschte. Wie das so ist beim ersten Schnee stehen die Menschen am Fenster und schauen verzückt den ruhig fallenden Flocken zu. Diese Flocken, formuliert Klumpfuss seine Gedanken um, wirbeln aber aufwärts genauso wie abwärts, es könnte auch von unten nach oben schneien und man fragt sich überhaupt, warum diese sogenannte dicke weisse Decke über dem Pflaster liegt und nicht vielmehr in der Luft, sodass man mit beiden Händen sich einen Durchgang schaffen müsste, ginge man jetzt durch die Nacht. Wie ich mit beiden Händen diesen schmutzigen hellrosa Vorhang auseinander halte, um rauszuschauen. Notiere diesen Vergleich bitte, Edgar, ich werde daraus eine von diesen Metaphern schaffen, für die ich berühmt bin. Für die ich unter anderem berühmt bin. Edgar, vor einigen Minuten vom Nachtportier aufgeweckt worden, fiel eben ins Zimmer. Der Schnee fiel ins Zimmer, danke, weil Klumpfuss das Fenster aufgerissen hatte. Edgar schlurft müde ins Zimmer, Schreibblock in einer und Kugelschreiber in der anderen Hand, lässt sich auf den abgewetzten Sessel fallen und beginnt zu schreiben, was Klumpfuss in den Schnee hinausdoziert. Schneewehen bilden sich im Zimmer, die Heizung gurgelt verzweifelt, der Wind heult, Edgar zitterte. Klumpfuss schliesst das Fenster, setzt sich Edgar gegenüber auf das Bett und langt nach der angebrochenen Flasche. Am nächsten Morgen sind weitere 20 Seiten der Memoiren vollendet. Edgar und Karl Klumpfuss sitzen mit Augenringen im Speisesaal, streichen Brötchen, der Kellner bringt Kaffee und berichtet den erstaunten Gästen, dass das kleine Dorf aufgrund des heftigen Schneesturms, von dem sie bestimmt geweckt worden seien, von der Aussenwelt abgeschnitten sei.
Dynamit, erinnerte sich Klumpfuss, weil man damals überhaupt alle in die Luft sprengen wollte, die Alpen zuvorderst und dann das Bundeshaus. Lucia hiess damals auch noch Luzia, gebürtig dort und dort, Vater Gemeindeschreiber, Gemüsezüchterverein und Gemeinsam für die Heimat, jeden zweiten Sonntag Programmsitzung im Wohnzimmer, Mutter jeweils bienenfleissig, Luzia vom ersten Stock zwischen den Treppenstufen hinuntergespäht und jeweils Kribbeln im Bauch wenns laut wurde. Kribbeln im Bauch, wiederholte Edgar und hämmerte es in seinen Computer. Für die Heimat, fuhr Klumpfuss unbeirrt fort, pflegte sie später zu deklamieren, dann schon 17 oder vielleicht 21, wir wussten das nie genau. Sie deklamierte, und wir hielten uns die Bäuche vor Lachen. Gebt mir Dynamit, schloss sie dann und wir stiessen an. Sie lachte und die Gläser klirrten.
Dieses Kribbeln im Bauch, markier mir das bitte. Ich werde das zu einem Thema ausbauen.
Sie sagte damals also, nahm Klumpfuss den Faden wieder auf, dass man ihr Dynamit geben solle und strich sich dann in ihrer Art die Haare aus dem Gesicht. Klumpfuss versuchte sich etwas ungeschickt an der lange vergessenen Handbewegung. Edgar bat, mehr über Lucia zu erfahren. Wie sie ausgesehen habe. Haare, Augen, Körper. Doch Klumpfuss winkte ab. Es sei jetzt nicht der rechte Zeitpunkt dazu. Überhaupt, und das müsste Edgar ja wissen, gehe er sparsam um mit Farben und Formen. Grau, sagte er, notiere das, wenn's sein muss: graues Kleid, schwarze Augen. Er würde sie morgen anrufen, und übermorgen würden sie überhaupt diese schreckliche Stadt endlich verlassen. Damals seien sie ja auch noch jung gewesen. Man hätte damals endlos Rotwein getrunken und und und diskutiert hätte man. Edgar nickte gelangweilt und dachte nicht zum ersten Mal daran, dass er sich mehr erhofft hatte als Phrasen von Karl Klumpfuss, dem alt gewordenen Dichter. Der alt gewordene Dichter stand da auf und ging umher. Er brauchte mit einiger Mühe das Zahnglas aus der Halterung heraus, versuchte die Zahnpastareste herauszuputzen mit dem trüben Wasser vom Hahnen und füllte es dann drei Finger hoch mit dem Whisky, den Edgar ihm vorausschauend hervorgesucht hatte.
Kurz darauf bogen sie in eine Raststätte ein, weil Klumpfuss auf die Toilette musste und Edgar sich die Beine vertreten wollte, wie er sagte. Denn er hätte die ganze Nacht mit angezogenen Beinen geschlafen, es sei so kalt gewesen in seiner Mansarde.
Sie waren jetzt kurz vor dem Gotthard, und zu beiden Seiten türmten sich bedrohlich die Berge auf, oder vielleicht waren es auch erst Felswände. Sie waren sich beide nicht sicher. Klumpfuss sagte, er hätte die Landschaftsschilderungen immer überschlagen, und Stifter zum Beispiel könne er sowieso nicht ausstehen. Oder wer das gewesen sei mit den Bergen.
Im Tunnel musste Klumpfuss die Augen schliessen, wegen den flackernden Lichtern, wie er erklärte, und weil er empfindlich sei. Der adäquate Reiz für dieses Sinnesorgan sei beim Menschen im Übrigen elektromagnetische Strahlung mit einer Wellenlänge von etwa 380 nm bis etwa 780 nm. Edgar stellte sich währenddessen vor, dass er in eine Schlange hineinfahre, und wunderte sich, wo sie wohl herauskommen würden.
"Die Tage sind noch schön sonnig, die Berge sind ein Regenbogen aus Gelb, Ocker und Rot, der sich im Wasser widerspiegelt und seine Farben ändert. Die Weintrauben sind reif und können in Wein verwandelt werden und zahlreiche Feste werden organisiert, um «den Nektar der Götter» zu feiern und zu degustieren."
Im Tessin angekommen schlief Klumpfuss tief und fest. Edgar drehte am Radio herum und fuhr dabei fast in einen kleinen Fiat hinein, dessen Fahrer ärgerlich hupte und winkte und schliesslich über eine Abschrankung fuhr und, wie später in der Zeitung stand, 773 Meter in die Tiefe fiel. Aber schon während dem Sturz, wie Edgar weiter phantasierte, an einem Herzversagen verstarb, wie die Zeitungen zur Beruhigung vermelden würden. Die schöne jungen Witwe verliebte sich später in Edgar, welcher ihr erst viele Jahre später auf dem Totenbett gestand, Fredericos Unfall verschuldet zu haben. Ach, da vorne war er ja wieder. Klumpfuss stöhnte im Schlaf auf. Edgar biss sich auf die Lippen und versuchte, sich auf die Strasse zu konzentrieren. Bis Mailand dann keine weiteren Zwischenfälle.
Das auffällige Fahrzeug in einer kleinen Seitengasse, Klumpfuss tief schlafend, wie Edgar sich durch lautes Zurufen versicherte, kaufte sich der Privatsekretär eine spanische Sportzeitung und machte sich auf die Suche nach einem Café, wo er aufmerksam die Pferderennresultate studierte.
Klumpfuss war inzwischen aufgewacht, rieb sich die Augen und schaute schläfrig den Passantinnen nach. Das sei jetzt also Italien, dachte er und versuchte sich an einige lateinische Sprichwörter zu erinnern, die er einzusetzen gedenkte. Da komme auch schon der Junge wieder, dachte er und versuchte sich zu erinnern, wo er hin gegangen sei, aber nett auf jeden Fall, dass er dies für ihn erledigt habe. Klumpfuss strahlte ihn an, als dieser zögerlich die Wagentüre öffnete, und schnippte ihm ein Zweieurostück hin. Kauf dir eine Sportzeitung, sagte er väterlich, und kramte in seiner Tasche herum, bis er eine weitere Münze fand, die er in Edgars schöne Hand drückte, und einen Kaffee. Ich selbst habe zu tun. Er versuchte sich an Lucias Nummer zu erinnern. Das war doch Lucia gewesen?
sie verreisten tatsächlich. Edgar holte den inzwischen staubig gewordenen Opel aus der Garage. Klumpfuss rümpfte die Nase und kaufte etwas besseres, und sie machten sich kurz darauf, Edgar mit einer neuen Koffer voll neuen Kleidern, damit Klumpfuss, wie dieser sagte, sich aus sehen lassen konnte mit seinem Sekretär, auf in Richtung Italien. Edgar trällernd am Steuer, Klumpfuss griesgrämig nebendran. Wir versuchen, baldmöglichst darüber zu berichten.
Einen Privatsekretär, stand in der Anzeige, sei gesucht; er möge bitte beherrschen das Französische sowie das Englische, zudem auch keine Scheu vorm Telefonieren haben, gepflegtes Aussehen, saubere Fingernägel, worauf unbedingt zu achten sei, gute Umgangsformen, auch und insbesondere mit Damen, einen sicheren, jedoch rasanten Fahrstil, allgemeingebildet, zudem die Fähigkeit, Gespräche zu führen über Geistesdinge. Absolute Diskretion müsse natürlich nicht erwähnt werden, da das selbstverständlichste Bedingung sei. Edgar fühlte sich "sehr angesprochen", wie er bald darauf am Telefon möglichst natürlich zu erklären suchte, "sehr angesprochen ob jenem Inserat in jener Tageszeitung, welche überhaupt den Beginn eines jeden Tages bilde, womit der Herr auch gleich seiner Geisteshaltung versichert sei. Sehr angesprochen also, und mit Vergnügen auch werde er vorbeikommen, so bald und wo immer der Herr es wünsche, um ihm den selbstverständlicherweise unabdingbaren persönlichen Eindruck seiner Person zu bieten, woselbst er dem Herrn auch gerne Kostproben seiner Kenntnisse, will nicht sagen 'vorführen', weil der Herr sich selbstverständlich keinen Affen wünsche, gleichwohl müsse er natürlich prüfen, wen er hier mit persönlichsten Dingen vertraue." Nun, so am anderen Ende der Leitung nach langem Schweigen, nun nun. "Selbstverständlich nicht aufdringlich sein wollen", daraufhin Edgar, "jedoch er verstehe, gerade heutzutage, wo die Schurken überall hin zu gelangen suchen, um den ehrlichen und rechtschaffenen Mann zu hintergehen und auszunutzen, müsse man ihnen keinen Fussbreit überlassen, will sagen die Möglichkeit im vornherein verhindern, schneller sein, deshalb dieser Überfall, haha, er missverstehe nicht. Wobei damit nicht gemeint sei, dies sei dem Herrn versichert, dass an des Herrn gesunden Urteilsvermögen und seiner Menschenkenntnis gezweifelt würde; gleichwohl die Vorsorge, die Möglichkeit ausschliessen, wie eben schon bemerkt, er möge die Wiederholung entschuldigen. Überhaupt zuviele Möglichkeiten heutzutage, er teile darin vollumfänglich die brillante Analyse, welche der Herr letzthin im Feuilleton jener Tageszeitung publizierte, mit grossem Vergnügen gelesen, mit Herzklopfen und plötzlich voller Tatendrang für das Gute und Rechte, ja auch deshalb die Eile und die Aufregung ob jener Anzeige."
So begann eines schönen Tages das Anstellungsverhältnis zwischen Edgar und Karl Klumpfuss, letzterer inzwischen alt und saturiert. Man vermutet, das damit sein wahres Wesen zum Vorschein gekommen ist. Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit zeigt sich in Wahrheit als reaktionären Starrsinn. Wir fürchten, dass auch die feine Kultiviertheit als Internalisierung von Zwängen sich entpuppt.
Edgar, 23 Jahre jung und glühend, fühlte sich auf jeden Fall nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen hingezogen zum fetten, schnaufenden Dichter und lauschte entzückt seinen in Hustenanfällen untergehenden Polemiken gegen Kunst und Gesellschaft. Nicht einmal die Kommasetzung, hob Klumpfuss eben an, zog ein zerknittertes Blatt aus seiner Westentasche, streichen Sie es bitte glatt, Edgar, sehen Sie, diesen Artikel von Babette Barfuss, Sie kennen die alte Geschichte, nicht wahr? Oh, Sie werden sie hören. Ich werde Ihnen schon bald meine Memoiren diktieren. Frau Barfuss kann mich nicht mehr ausstehen, seit ich jene bekannte Rezension schrieb. Die Kommasetzung, schreiben Sie das am besten gleich auf, Sie müssen unbedingt die gewichtigen Sentenzen festhalten, die ich dann und wann fallen lasse, die Kommasetzung ist das A und O einer jeglichen ästhetischen, moralischen sowie staatsbürgerlichen Mündigkeit. Man kann es auch bei Schiller nachlesen. Ich bin inzwischen alt und saturiert. Es war mir schon immer klar, das ich so werden würde. Edgar, lassen sie das Automobil vorfahren, wir werden verreisen.